Nach dem Sommer
Die Bilder aus dem Sommer sind immer noch wach: Tausende reißen die Mauern Europas ein. Sie lassen sich weder von Knüppeln noch von Tränengas aufhalten, reißen Stracheldrahtzäune nieder und überschreiten zu Tausenden die Grenze – die Festung Europa ist ins Wanken gekommen. Bei aller Tragik und Alternativlosigkeit, denen die die es nicht geschafft haben, die in Lagern eingepfercht werden oder gestorben sind, die politische Kraft, die das Streben nach einem besseren Leben entwickelt, ist beeindruckend – Autonomie der Migration. Die ungehorsame Mobilität der Flüchtenden hat nicht nur die materiellen wie legalen Institutionen der Festung Europa – Grenzzäune, Frontex, Dublin II und Schengen – herausgefordert und teilweise ausgehebelt, sondern auch die politische Geographie Europas durcheinandergewirbelt.
Damit stellt sich auch die europäische Frage neu. Bis zum Herbst war sie dominiert von Kämpfen gegen Austerität und Autoritarismus: Das Oxi der griechischen Bevölkerung, die Massenproteste in Spanien und Portugal, die europäische Wut am 18. März in Frankfurt zur Eröffnung der EZB. An verschiedenen Stellen in Europa haben die Menschen angefangen Dinge solidarisch selbst in die Hand zu nehmen und Gesundheitsversorgung, Wohnraum und Bildung selbst zu organisieren. Diese Kämpfe sind alles andere als vorbei. Mit dem dritten Memorandum und nach dem Sommer der Migration haben sich aber die Vorzeichen geändert, das Terrain verschiebt sich weiter.
Und schließlich haben die Anschläge von Paris zu Beginn und Ende 2015 die politischen Koordinaten geändert und eine komplexe Frontstellung deutlich gemacht. Sie haben uns auf eine neue Weise mit den kurdischen Befreiungskämpfen verbunden, die 2015 mit dem Sieg von Kobane das größte Zeichen der Hoffnung im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ geschaffen haben. Dies bleibt unser Bezugspunkt, gegen den Merkel-Erdogan-Pakt, gegen das imperiale Regieren im Ausnahmezustand, ob in Paris oder Cizîrê.
Das Jahr 2015 hinterlässt eine veränderte Welt, ein verändertes Europa, ein verändertes Deutschland: die wenigsten Fragen sind neu, aber die meisten stellen sich auf eine neue Weise.
Dunkle Zeiten
Die Autonomie der Migration hat die Herrschenden auf eine Weise herausgefordert, wie es linken Bewegungen seit Jahrzehnten nicht gelungen ist. Merkel hat sich entschieden Willkommenskultur zum deutschen Kulturgut zu erklären. Doch diese Strategie ist innerhalb des herrschenden Blocks so umstritten wie sie doppelzüngig ist. Zum „Wir schaffen das“ gehört die weitgehend unbemerkte aber drastische Verschärfung des Asylrechts. Während sich das Kapital über billige Arbeitskräfte freut und zwischen „guten“ und „schlechten“ Geflüchteten unterscheidet, kommt es zu einer Militarisierung und Rekonstituierung der Außengrenzen. Ausdruck davon ist der Pakt zwischen der EU und der Türkei, in dem die Türkei den Drecksjob der Flüchtlingsverhinderung übernehmen soll. Die Gegenleistungen sind Geld und ein Schweigen zur Repression gegen die kurdische und türkische Linke und zum immer weiter eskalierenden Krieg gegen die kurdische Bevölkerung.
Täglich gibt es Angriffe auf Geflüchtete und deren Unterkünfte, inzwischen mit Schusswaffen und Handgranaten, PEGIDA bringt immer noch Tausende auf die Straße, Neonazis fühlen sich im Aufwind und greifen wie in Connewitz immer organisierter und zugleich wahlloser an. Die rechte Mobilmachung und die Angriffe kommen nicht aus dem Nichts, sie sind das Produkt einer gesellschaftlichen Stimmung und daraus folgender Debatten, die eben nicht nur von ganz rechts, sondern auch in der zunehmend extremen Mitte geführt werden. Wer fordert Obergrenzen einzuführen, weil die „Aufnahmekapazität“ erreicht ist“ und verlangt diese mit Waffengewalt gegen Geflüchtete durchzusetzen, fordert in der Konsequenz noch mehr Tote im Mittelmeer und anderswo. Widerstand gegen Zuwanderung „bis zur letzten Patrone“ (Horst Seehofer, CSU). Die Brutalisierung des politischen Diskurses ist bemerkenswert. Und mit der AFD hat der gesellschaftliche Rechtsruck einen parteienförmigen Ausdruck gefunden. Dabei ist festzustellen, die AFD ist erfolgreich nicht trotz, sondern wegen ihrem offenen Autoritarismus und Rassismus.
Die Reaktionen auf die Ereignisse der Silvesternacht in Köln haben gezeigt, dass die Stimmung leicht noch weiter kippen kann. So schien es für viele eine Erleichterung zu sein, endlich unverhohlen rassistische Ressentiments gegen Geflüchtete auszupacken. Eine gute Gelegenheit die nächste Asyslrechtverschärfung zu beschließen: Nicht etwa der bessere legale und praktische Schutz gegen sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen, kostenlose Selbstverteidigungskurse für Frauen* oder ein Aufschrei gegen Alltagssexismus, sondern „kriminelle Ausländer schneller abschieben“, das ist die Antwort fast aller Politiker*innen und Parteien. Die platte und zynische rassistische Instrumentalisierung der Ereignisse von Köln ist für Betroffene sexualisierter Gewalt, Frauengruppen, Feministinnen und Schutzstrukturen ein weiterer Schlag, wird doch ihre Arbeit seit Jahren kaputtgespart oder belächelt. Sexismus ist Alltag in Deutschland und Europa, und das nicht erst seit der Silvesternacht auf der Kölner Domplatte.
Und ausgerechnet jene, die seit Jahren antifeministisch mobil machen, wollen nun Rechte von Frauen* verteidigen. Dabei ist es nicht nur die AfD, die gegen „Genderwahn“, Gleichberechtigung und die körperliche und sexuelle Selbstbestimmung von Frauen mobilisiert, Antifeminismus und Homophobie sind integraler Bestandteil der gegenwärtigen rechten Offensive. Ganz klar: Antirassismus, Antifaschismus und Antisexismus sind das Gebot der Stunde. Wir müssen uns gegen den rechten Straßenterror genauso wie gegen die AFD, gegen sexistische Gewalt und rassistische Stimmungsmache zur Wehr setzen. Wir müssen uns organisieren um Angriffe auf Geflüchtetenunterkünfte und linke Projekte zu verhindern. Nur: Das allein wird nicht reichen.
Die soziale Frage ist offen. Für eine neue Offensive
Wir haben es bereits Anfang des Jahres gesagt: Die soziale Frage ist offen – lassen wir sie nicht rechts liegen. Überall deuten sich neue Verteilungskonflikte an. Wo kommunale Austerität auf Geflüchtete trifft entsteht ein geradezu ideales Agitationsfeld für die Rechten. Nur wenn es uns die gelingt diese Fragen von links zu besetzen, nur dann können wir erfolgreich sein. Deswegen wäre es fatal sich jetzt auf Abwehrkämpfe zu beschränken.
An allen Stellen deutet sich eine Strategie der Spaltung ab, in der Geflüchtete und andere Gruppen materiell und diskursiv gegeneinander ausgespielt werden: Wer darf ins Schwimmbad? Wer erhält Gesundheitsversorgung? Wer kann es sich leisten in seine_r Wohnung zu bleiben oder eine zu finden? Wer wird nicht betroffen sein von Prekarität, von Unterfinanzierung und wer wird ausgeschlossen sein von den elementarsten Gütern? Dass die Probleme in den meisten Fällen nichts mit Geflüchteten zu tun haben, sondern Prekarisierung, Wohnungsnot und kaputte Infrastruktur integrale Bestandteile des deutschen Exportmodels sind, ist kaum Thema. In ganz Europa normalisiert sich die Austerität und überall nutzen Regierungen und Rechte die Geflüchteten als Sündenböcke. In dieser Situation brauchen wir eine neue soziale Offensive.
Um die Spaltung zurückzuweisen, müssen wir diese Verteilungsfragen offensiv von links politisieren und in unserem Sinne zuspitzen. Dabei wird es darum gehen neue soziale Allianzen zu schmieden, die eigenen Kämpfe in den Zusammenhang zu stellen und die offene Situation für die Ideen der Solidarität, der Selbstorganisation und der Vergesellschaftung und Rückeroberung sozialer Infrastruktur zu nutzen: Wohnraum für Alle, Gesundheitsversorgung für Alle, gleiche Rechte für Alle, Bewegungsfreiheit für Alle, Partizipation für Alle. Alle, die hier sind, sind von hier und alle die herkommen wollen, sollen herkommen können. Wir machen keine Unterschiede zwischen all denjenigen, die nach einem gutem Leben in Solidarität streben.
Ansatzpunkte gibt es gerade genug. Etwa in den zahlreichen Willkomensinitiativen die täglich Geflüchtete auf vielfältige Weise unterstützen. Klar, einige glauben so Merkels Politik zu unterstützen, andere wollen nur ihr Gewissen beruhigen. Aber die praktische Solidarität ist bemerkenswert und kann sich weiter politisieren. Schließlich sehen die meisten Engagierten sehr wohl, dass etwas nicht stimmt wenn Städte wie Berlin und Hamburg Milliarden für Olympia übrig haben, aber angeblich nicht dazu in der Lage sind, Geflüchtete menschenwürdig unterzubringen oder sie auch nur mit Wasser und Nahrung zu versorgen, während sie in der Kälte auf ihre Registrierung warten.
Die soziale Frage ist wieder auf dem Tisch, sie stellt sich etwa in Bezug auf Wohnen, Infrastruktur, Grundsicherung und sie ist an vielen Stellen durchaus umkämpft. Wir wollen einen notwendigen Schritt weitergehen und aus den kommenden Verteilungskonflikten innerhalb der Unter- und Mittelschicht, zwischen Neuankommenden und Alteingesessenen einen Klassenkonflikt zwischen Oben und Unten machen.
Was tun? Solidarity for all!
Die Frage nach Wohnraum bietet einen ersten zentralen Ansatzpunkt: Wer nach langer Flucht in Orten wie Wien, Leipzig, Heidelberg oder Berlin angekommen ist, wird zurzeit behelfsmäßig in Zelten, Turnhallen, ehemaligen Baumärkten oder Flughafenhangars untergebracht. Dies trifft in vielen Städten auf durch Gentrifizierung und Verdrängung geprägte Wohnungsmärkte und kaputtgesparte Infrastruktur. Um Spaltungspolitik und das Mantra der Alternativlosigkeit zurückzuweisen, müssen wir praktisch intervenieren: Megaprojekte angreifen, Leerstand markieren, soziale Zentren besetzen. Der Horizont ist die Stadt für Alle: die Aneignung der Lebensbedingungen aller Menschen durch die Menschen selbst, d.h. der vollständige Zugang zu allen Bereichen der sozialen Infrastruktur und die Selbstverwaltung dieser Strukturen durch alle Beteiligten – unabhängig von Herkunft und Aufenthaltsstatus.
In diesem Bereich fangen wir, wie an vielen anderen Stellen, nicht bei Null an: Seit Jahren gibt es massive Kämpfe von selbstorganisierten Refugees, Organisierung gegen Abschiebungen, vielfältige Auseinandersetzungen für ein Recht auf Stadt. Es gibt zahllose Widerstände und Kämpfe gegen Ausbeutung und Prekarisierung, gegen Privatisierung und Entdemokratisierung. Allerdings sind diese Kämpfe vielfach fragmentiert und bleiben oft unsichtbar. Wenn wir eine Offensive wollen, brauchen wir neue Allianzen. Wir laden dazu ein, jetzt diese Koalitionen zu schaffen, gemeinsam eine Offensive zu wagen.
Als radikale Linke müssen wir versuchen die Verteilungskämpfe praktisch in unsere Richtung zu wenden. Wir müssen Bezugspunkte schaffen, sichtbarerer werden und verbindende Interventionspunkte finden. Die Herausforderung ist, dies konkret zu tun, Erfolge zu erzielen und dabei nicht zu den besseren Verwalter*innen einer untragbaren Situation zu werden. Zu der Aufgabe Widersprüche zuzuspitzen, radikalisierend zu wirken und nach Punkten zu suchen in denen Kämpfe über sich selbst hinausweisen, kommt eine zweite: Mehr denn je sind wir dazu aufgerufen Alternativen zu formulieren, die gleichzeitig greifbar und radikal sind. Welche Gesellschaft von morgen schlagen wir vor?
Die politische Geographie stellt eine nächste Herausforderung dar: Die kommenden Verteilungskämpfe stehen oft im Rahmen der Stadt, der Kommune, des Bezirks und dort müssen wir sie auch annehmen. Gleichzeitig werden wir sie dort nicht gewinnen. Die Verbindungen dieser lokalen Ansatzpunkte mit unseren trans- und internationalen Netzwerken und Kämpfen bleibt zentral. Die vielfachen sozialen und räumlichen Fragmentierungen sind konstitutiver Herrschaftsmodus des gegenwärtigen Kapitalismus. Dies gilt es gleichzeitig zu verstehen und auf die Überwindung hinzuarbeiten. Konkret heißt das gleichzeitig die lokalen Kämpfe anzunehmen, aber auch unsere Räume und Ebenen zu erschaffen: mit Konvois und Angriffen auf Grenzzäune Fluchtrouten offen halten, europaweiter sozialer Streik, Momente und Kristallisationspunkte des europäischen Wiederstands gegen Austerität zu schaffen, unsere Verbindungen nach Rojava/Kurdistan stärken, in feministischen Kämpfen Räume zurückerobern.
Die politische Situation sieht an vielen Stellen düster aus, gleichzeitig ist sie offen wie lange nicht mehr. Wenn wir die Offensive wagen, ist das unsere Chance.